Maße des Menschlichen

Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft, 2003, Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland

Unser Bildungssystem befindet sich in einer Krise. Eine solche Entwicklung ist nicht neu. Vor über 30 Jahren sprach man schon einmal von einer »Bildungskatastrophe«. Damals wurde eine Bildungsoffensive gestartet, die mit vielen Idealisierungen verbunden war. Das große Ziel, mehr Bildungszugänge und mehr Chancengerechtigkeit zu schaffen, wurde allerdings bis heute nur ansatzweise verwirklicht. Das zeigen die aktuellen Studien erschreckend deutlich. Zahlreiche Programme wollen Abhilfe schaffen. Manche preisen einseitig die angeblich unbegrenzten Möglichkeiten von Wissen und Lernen. Die alten Fehler sollten sich nicht wiederholen. Gefragt ist ein realistischer Blick auf den Menschen. Die Bibel spricht davon, dass er wenig niedriger gemacht ist als Gott (Psalm 8). Darin liegt ein großartiges Potential. Gleichzeitig zeigt das Bußgebet »Herr, sei mir gnädig, denn ich bin schwach« (Psalm 6), dass sich der Mensch immer wieder schmerzlich seines Unvermögens bewusst wird.

Wissen braucht daher ein menschliches Maß. Naturwissenschaftlich-technische Kenntnisse zu erweitern, ist für das Leben der Menschen wichtig. Aber das reicht nicht aus. Mehr Wissen bedeutet nicht automatisch mehr Orientierung. In einer Zeit, in der das Wissen mit großer Geschwindigkeit wächst, drohen die wirklich wichtigen Fakten und Informationen im »Informationsmüll« unterzugehen. Es geht nicht allein darum, über Wissen zu verfügen, sondern vor allem darum, es richtig zu verarbeiten und anzuwenden. Das erfordert nicht zuletzt moralisch-ethische Maßstäbe zur Beurteilung des Wissens.

Lernen darf nicht zum Selbstzweck werden. Die Aufforderung zum »Lebenslangen Lernen« ist ambivalent. Zwar sind wir Menschen nie »fertig«, und es ist ein Geschenk, wenn Menschen bis ins hohe Alter geistig beweglich bleiben, immer noch lernend verstehen. Aber wenn das »Lebenslange Lernen« zu einem Diktat der lebenslänglichen Anpassung an sich ständig verändernde wirtschaftliche Erfordernisse und Ziele verengt wird, müssen wir widerstehen. Wir Menschen sind mehr, als wir gelernt haben und jemals lernen können.

Die Kirchen werden immer wieder aufgefordert, sich für die »Werte« in unserer Gesellschaft einsetzen. Das tun wir gern, aber Werte sind nicht zum Nulltarif zu haben. Es gibt Qualitäten unserer Existenz, die nicht in geldwerter Zeit zu verrechnen sind. Zuneigung, Liebe, Dankbarkeit, Würde und Geschmack benötigen andere Zeitformen als die Beherrschung von Computer-Software. Bildung ist mehr als Wissen und Lernen. Sie fragt nach dem Selbstverständnis und dem Weltverständnis des Menschen. Die religiöse Dimension darf darin nicht ausgeblendet werden.

Die Evangelische Kirche in Deutschland hat sich auf zwei Synoden 1971 und 1978 mit dem Bildungsbereich grundsätzlich befasst. Die Entwicklungen in der Bildungspolitik, der genaue Blick auf die Lebenslage des Einzelnen in Familie und Gesellschaft und die Frage nach einer zukunftsorientierten Bildung im Zusammenhang des Beschäftigungssystems waren damals und sind heute von entscheidender Bedeutung.

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat den von der Kammer der EKD für Bildung und Erziehung, Kinder und Jugend erarbeiteten vorliegenden Text dankbar und zustimmend entgegengenommen und seine Veröffentlichung als Denkschrift beschlossen. Damit würdigt der Rat in dem angedeuteten geschichtlichen Rahmen nachdrücklich die Bedeutung des Bildungsbereiches für Kirche und Gesellschaft. Die Denkschrift will dazu beitragen, die Herausforderungen, die uns heute im Bildungsbereich bedrängen, konsequent und mit einer langfristigen Perspektive anzugehen. Der Rat dankt allen, die sich für eine Bildung und Erziehung einsetzen, die dem menschlichen Leben dient und es durch Brüche und Ambivalenzen hindurch zu entfalten sucht.

Hannover, im Januar 2003

Präses Manfred Kock
Vorsitzender des Rates der
Evangelischen Kirche in Deutschland

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